dasdarfdochwohlnichtwahrsein

Der alltägliche Wahnsinn…alleinerziehend mit zwei Jungs. Mein Leben fühlt sich meistens an wie ein 5.000-Teile-Puzzle – niemals fertig, ich bin glücklich, wenn ich wieder ein Teil aus dem Rand finde, manchmal kurz davor alles hinzuschmeissen, von unten gegen den Tisch zu treten und doch der Faszination des Großen und Ganzen erlegen… Ich liebe die Beiden. Und ich liebe mein Leben. Und ich liebe unser Lebenspuzzle.

Thema 2: Der Kleine

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Mein Kleiner. Mein Sorgenkind. Mein Hase.
Inzwischen auch schon acht Jahre alt. Und genauso wie sein großer Bruder, sicher kein Kleiner.
Und ein besonders Hübscher.

Inzwischen geht er in die 2. Klasse.
Und als wäre es gestern, kann ich mich erinnern, dass eigentlich mit dem ersten Schultag alles erst richtig angefangen hat. Ich will nicht Stress sagen. Das würde ihm und der Situation nicht gerecht werden.
Er wusste jedenfalls nach kürzester Zeit, dass er „da“ nicht mehr hingehen wollte, weil es langweilig ist.

Gleichzeitig kämpften wir noch immer mit seiner „eosinophilen Ösophagitis“, einer chronisch entzündeten Speiseröhre, deren Ursache seit 2016 mit Hilfe diverser Ausschlussdiäten und anschließender Magenspiegelung, gesucht wird. Bisher erfolglos. Alles, was wir wissen ist, dass es eine Lebensmittelallergie sein soll.
Das bedeutet, dass er gerade am Anfang in der Schule sehr zu kämpfen hatte, da keiner nachvollziehen konnte, wie es ist, wenn er manchmal 30 bis 40mal täglich anverdautes Essen im Mund hatte und es ausspucken musste (man nennt dieses „Hochwürgen“ von Essen ruminieren). Es hat mehrere Gespräche mit der Lehrerin und der Schulleitung gedauert, bis er ohne Fragen, ohne „Klo-Kette“ oder ohne die Biotonne vor allen anderen Schülern zu benutzen, einfach zur Toilette gehen und ausspucken durfte. Ein schwerer Start.

Ziemlich schnell kam die Lehrerin dann auf mich zu, weil ihm eben so sehr langweilig war. Ob noch niemand vom Kindergarten mich darauf angesprochen hätte?
Nicht wirklich. Also machte ich mich auf den Weg. Ich wollte so wenig Krankenhaus-Arzt-Umgebung für ihn, wie möglich.

Im Kinderzentrum waren wir dreimal, so richtig, richtig wohlgefühlt haben wir uns nicht, aber der Psychologe, der den Kleinen untersuchte, sollte eine Koryphäe, die allerdings eine Woche später in Rente ging, auf diesen Gebieten sein.
Jedenfalls hatten wir nach einigen Wochen das Resultat, er ist hochbegabt in mehreren Bereichen, hat ein verzögertes Arbeitstempo, hat Schwierigkeiten mit der Selbstorganisation etc.
Das Thema Autismus Spektrum Störung wollte der Psychologe nicht vertiefen, da er den Kleinen nicht weiter stigmatisieren wollte. So nach dem Motto: das Vorliegende wäre ja schon alles schlimm genug.

Und damit hat man uns dann allein gelassen.
Zum Glück hat man uns im November 2018 in der Kinderklinik nach 2-tägigem Aufenthalt mit Magensonde und allem Drum und Dran erst mal für ein Jahr entlassen, er sollte halt eine sehr hohe Dosis der Magensäureblocker nehmen und wir sollten uns einen Therapeuten suchen (Logopäden, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten), der ihm das Ruminieren abgewöhnt.

Den vermeintlich weiteren Weg mussten wir in der Schule gehen. Die Lehrerin war furchtbar nett und aufgeschlossen, wollte gerne aktiv etwas für ihn tun, ihn mit zusätzlichem Material unterstützen, ihn fordern und mit Aufgaben aus der dritten Klasse weiterbringen.

Über das Jahr hinweg wurde das schwieriger und schwieriger. In einer ganz normalen Regelklasse mit mehr als zwanzig Erstklässlern, mit einigen sozial nicht so gut verträglichen Kindern, mit drei Kindern, die gar nicht deutsch sprechen, wie soll es möglich sein, jedes Einzelne genau nach seinen Bedürfnissen zu fördern?
Der Kleine ist keiner, der auffällig wird, wenn es ihm nicht gut geht. Ganz im Gegenteil, er verschließt sich immer mehr, wird ruhiger, geht in sich, wird immer weniger. Das tut so sehr weh, wenn man ihn so beobachtet.
Wirklich geholfen hat mir die örtliche Elterngruppe der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind. Es hat viele Telefonate und Wege gedauert, bis ich sie gefunden hatte, aber dort bekomme ich Rückhalt von anderen Eltern, die genauso ungewöhnliche Wege für ihre Kinder gehen, Kämpfe ausfechten müssen und die Bestätigung immer und immer wieder auf mein Herz zu hören.

Das ist eigentlich das Schwierigste. Mit all den Entscheidungen, die ich in dieser Zeit treffen musste, allein zu sein. Und das wird auch auf absehbare Zeit nicht leichter. Jede Untersuchung, jede Diagnostik, jeder Termin, jede Therapie muss ich mit mir abstimmen. Bin ich richtig? Ist der Weg noch richtig? Ist das wirklich angemessen? Ist das alles das Beste für den Kleinen?
Ich kann die Nächte, in denen ich wachgelegen bin, mir die Augen aus dem Kopf geweint habe vor lauter Sorgen, nicht mehr zählen.

Nun in der 2. Klasse ist gar nichts einfach geworden. Wir hängen zwischen Bauchweh, massiven Einschlafproblemen (begleitetes Einschlafen dauert zwischen ein und zwei Stunden) aber trotzdem der Lust am „Dazugehören“, am „Dabeisein“. Er ist gerne ein Teil der Klassengemeinschaft. Er ist tatsächlich ein beliebtes Kind. Einfach, weil er ist, wie er ist. Er hasst Auseinandersetzungen, Streit, Konflikte. Er schlägt nicht zurück. Also versucht er, so gut es mit seiner besonderen Art eben geht, sanft, besonnen, vernünftig zu schlichten, für Ruhe zu sorgen. Dass er oft einstecken muss, dass er niemals petzt und dann erst Stunden später zuhause (wenn überhaupt) zusammenbricht, vielfach nicht über das Erlebte sprechen kann, wir eine ganz besondere Art der Kommunikation entwickelt haben, ich glücklicherweise oft „spüre“, wenn was nicht in Ordnung ist und weiß, wie ich darauf reagieren kann, das weiß niemand.

Dann hat im Herbst 2019 der Kinderarzt die Reißleine gezogen. Gemeinsam mit meinem Hausarzt. Die jetzt schon gemeinsame Sache machen…
Der eine hat mich krank geschrieben, der andere einen Termin mit dem Medizinischen Dienst organisiert. Es sollte endlich sichtbar werden, was wirklich los ist. Ich sollte ein Pflegetagebuch führen. Nur über eine Woche. Und das hat fast mein Herz gebrochen. Normalerweise handelst Du als Mutter einfach. Klar stellst du Unterschiede bei deinen Kindern fest, rechtfertigst sie aber immer damit, dass ja nicht alle Kinder gleich sind. Mir ist nie bewusst gewesen, dass sich mein Kind mit sieben Jahren nicht alleine anziehen kann. Dass er, wenn ich nicht dabei bin, sein T-Shirt über den Schlafanzug zieht. Dass er nicht alleine Zähneputzen kann, wenn ich nicht dabei bin. Dass er einfach keine Zahnpasta benutzt oder gar nicht putzt. Dass er eigentlich nicht alleine isst oder trinkt. Dass ich ihn immer animieren muss, immer bei ihm sein muss. Er würde das Essen und Trinken einfach vergessen. Mir war nicht bewusst, dass ich ihn in der Früh bei allem begleiten muss, ihm wieder und wieder ansagen muss, welche Schritte zu tun, welche Dinge der Reihe nach anzuziehen, mitzunehmen, nicht zu vergessen sind. Ich habe nicht mehr bemerkt, dass ich ihn auf jede Veränderung im Tagesablauf meist schon Tage vorher vorbereiten muss, dass wir spontan nirgendwo hingehen können. Ich habe automatisch Strategien entwickelt. Ich habe gelernt, mit ihm umzugehen. Weiß Gott, nicht immer perfekt, aber so, dass es für uns drei gangbar war. Und das alles nicht, weil ich nicht weiterdenken wollte, weil ich die Augen verschließen wollte.
Ich glaube, ich hatte einfach keine Kraft. Ich habe einfach versucht, den Alltag so gut es geht zu meistern. Jeden Tag irgendwie zu schaffen. Da war kein Platz für noch mehr angstmachende Gedanken.
Die Dame vom Medizinschen Dienst war erstmal schroff, wie alle, die den Kleinen zuerst erleben. „Der hat mich doch nett begrüßt und mir in die Augen geschaut! Das kann doch gar kein Asperger sein!“ Hat sein Zeugnis gesehen. „Bemüht sich um eine gute Klassengemeinschaft! Ha!“ Dann hat sie mein Pflegetagebuch gelesen. Erst skeptisch, als wäre ich eine nach Anerkennung heischende Lügnerin. Dann wurde sie leiser und leiser.
Dann fragte sie nach einer Diagnose. Ich konnte nur sagen, dass es bislang lediglich die bestätigte Hochbegabung gäbe und einige gesundheitliche Einschränkungen. Dass ich mich aber endlich getraut hätte und bei einer renommierten Kinderpsychaterin Termine für eine komplette Diagnostik, die sich über Monate hinziehen würde, ausgemacht habe.
Daraufhin hat sie dem Kleinen Pflegegrad 1 gegeben mit dem Versprechen, sobald eine Diagnose vorliege, ihn mindestens in 3, wenn nicht sogar in 4 hochstufen. Ohne weitere Diskussionen. Ich hab nur noch geweint. Vor Erleichterung. Und weil die Erkenntnis einfach so hart war. Und traurig.

Über die Weihnachtsferien haben wir uns Zeit genommen. Wir drei. Der Große, der Kleine und ich. Haben einfach nur die Ruhe genossen. Und sind mit allem klar gekommen. Haben geredet. Und geschwiegen. Waren viel draußen und auf dem Sofa.
Ich habe viel verstanden in dieser Zeit. Was wichtig ist und was nicht. Und wie viel Hilfe ich wirklich brauche. Und vor allem in Zukunft brauchen werde.
Und so läuft hier unsere Diagnostik noch bis Anfang April und dann werden wir in aller Ruhe anfangen und Hilfe zu suchen. Passgenaue. Echte. Richtige. Und ich werde weiter kämpfen. Für mein Baby. Das kann ich nämlich. Manchmal muss man sich auf seine Kernkompetenzen zurückbesinnen.

Und dem Gefühl für das Kind vertrauen. Und den Faden nicht abreißen lassen. Er ist ein wunderbarer Junge. Und alles Engagement wird sich lohnen.

 

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